Der Weihnachtswald

von Anneliese Kranzberger


Meike ist gerade sieben Jahre alt geworden und schon bald ist wieder Weihnachten.
Meike mag Weihnachten und Meike weiß auch, warum man Weihnachten feiert. „Weil da das Christkind geboren wurde und Maria seine Mutter und Josef sein Vater auf der Erde und Gott sein Vater im Himmel ist!“, antwortet sie immer, wenn sie danach gefragt wird.
Meike mag eigentlich alles, was mit Weihnachten zu tun hat. Dass Geschenke basteln, das Singen und Warten darauf. Das tägliche Öffnen ihres Adventskalenders, das Plätzchen backen und das Geschichten vorlesen. Aber am allerschönsten findet Meike an Weihnachten, wenn sie mit Papa in den Wald darf, um dort den Weihnachtsbaum auszusuchen. Sobald es Zeit dafür ist, sagt er immer. „Na Meike! Was ist? Fahren wir zum Weihnachtswald?“ Dann springt sie begeistert auf und rennt zum kleinen roten Traktor in die Scheune.
Ja, so ist es immer gewesen! Nur heuer ist alles ganz anders. Meike kann es immer noch nicht fassen. Denn ihr Papa fährt täglich zum Weihnachtswald, ohne sie auch nur einmal danach gefragt zu haben, ob sie mitkommen will. Meike ist sehr traurig darüber und freut sich gar nicht mehr auf Weihnachten, und auf ihren Papa hat sie auch eine Stinkwut. „Warum macht er das nur? Warum vertröstet er mich von einen Tag auf den Anderen? – Morgen Meike! Morgen darfst du mit!“ Und, wenn sie ihre Mutter danach fragt, sagt die auch nur immer: „Morgen Meike! Morgen! Ganz sicher!“
Da beschließt Meike, alleine zum Weihnachtswald zu gehen. Aber schon auf der halben Wegstrecke dorthin, wird ihr so bange, dass sie schnell wieder umkehrt.
Aber schließlich meint Meike, und sie glaubt es nun ganz genau zu wissen, dass ihr Papa dort im Weihnachtswald ein großes Geheimnis hütet. Meike hasst es aber, wenn jemand Geheimnisse hat. Sie kann es einfach nicht ertragen, wenn sie was nicht gesagt bekommt, was sie so dringend wissen will. Und überhaupt, ist in letzter Zeit alles ganz anders Zuhause. Alles sehr merkwürdig, sehr sonderbar – eben richtig Geheimnisvoll.
So kocht zum Beispiel ihre Mutter täglich, Unmengen von Suppen und bäckt Gewürzkuchen und Stollen ohne Ende. Wenn Meike sie danach fragt, für wen das Alles sei, sagt sie nur: „Für den Weihnachtswald!“ Mehr nicht! Mehr ist aus ihrer Mama nicht herauszubringen. Wenn das nicht nach einem Geheimnis riecht!
Papa lädt dann das Ganze auf den Anhänger, dazu noch jede Menge Kartoffeln und Brot und fährt damit zum Weihnachtswald. Selbst die Oma und der Opa, ja sogar ihr Hofhund Caro, dürfen mitkommen. Nur sie muss weiter zuhause bleiben und Mama auch. Aber die muss ja sowieso kochen und backen.
„Keiner hat mehr Zeit für mich! Keiner kommt mit mir zum Kinder-Advent-Singen! Keiner beachtet meine gebastelten Sterne, obwohl sie schon an allen Fenstern des Hauses kleben! Keiner will mit mir singen und keiner mir beim Flöte spielen zu hören! Und eine Gute-Nacht-Geschichte gibt es auch nicht mehr!“ Meike ist so traurig darüber, dass sie gar nicht mehr will, das Weihnachten kommt. Aber es kommt trotzdem. Meike sieht es an ihrem Adventskalender. Schließlich steht es buchstäblich vor der Tür.
„Nur noch einmal schlafen, dann ist Weihnachten und wir waren noch nicht einmal im Weihnachtswald um den Christbaum zu holen! Was wird das heuer nur für ein Weihnachten?“ Meike ist so betrübt darüber, dass sie nicht mehr spielen will, nicht mehr basteln kann und auch keine Lust mehr dazu hat ein Bilderbuch anzuschauen. Verhüllt unter ihrer Decke liegt sie traurig auf ihrem Bett, als plötzlich ein Rufen durch das Haus hallt.
„Nun Meike! Was ist? Fahren wir zum Weihnachtswald?“
Meike glaubt zu träumen. Sie hat sich wohl verhört! Doch da …! Wieder! „Nun Meike! Was ist? Fahren wir nun zum Weihnachtswald?“ Da kommt Meike aus ihrem Zimmer, rennt die Treppe hinunter, schlüpft hastig in ihre Winterstiefel, reißt fast ihre Jacke vom Garderobenhaken, greift noch nach ihrer Mütze und den Fäustlingen und saust auch schon hinaus zum roten Traktor, der zur Abfahrt bereit steht.
Der kleine rote Traktor tuckert langsam dahin. Es wird schon dunkel und es beginnt zu schneien. Meike ist glücklich und aufgeregt. „Endlich fahren wir zum Weihnachtswald!“, und sie fühlt ein Kribbeln im Bauch.
Meike versucht in ihrem Übermut zuerst mit ihrer Mütze dann mit ihrer herausgestreckten Zunge die immer größer werdenden Schneeflocken aufzufangen. Sie kann einfach vor Aufregung nicht mehr still sitzen.
Der kleine Traktor schnauft einen steilen Berg hinauf.
„Der Weihnachtswald! Endlich!“, holt Meike tief Luft und strahlt über das ganze Gesicht. „Der leuchtet ja richtig!“
Oben auf dem Hügel angekommen, bekommt dann Meike ganz große Augen. „Der Weihnachtswald leuchtet ja wirklich!“
Der kleine Traktor fährt durch ein großes Lichter-Tannenzweigen Tor, wo ein großes Schild angebracht ist. Lichterketten säumen den Weg am Waldrand entlang. Sie führen hin zu dem großen freien Platz, wo Papa` Waldhütte steht. Auch sie ist geschmückt mit Lichterketten. Der Platz drum herum ist von dem vielen Schnee freigeräumt worden, und in den dadurch entstandenen Schneebergen stecken brennende Fackeln. Vor der Waldhütte lodert ein rot glühendes riesiges Lagerfeuer, wo Sitzplätze aus zugeschnittenen Baumstämmen angebracht sind. Meike staunt und staunt.
Große Scheinwerfer erleuchten den Weihnachtswald dahinter. Die vielen kleinen und großen Tannenbäume funkeln und glitzern in ihrem Licht.
Meike springt vom kleinen Traktor und saust ausgelassen durch den Weihnachtswald. Jeden Tannenbaum will sie einzeln bestaunen, um sich dann den allerschönsten für Zuhause auszusuchen.
„Was für einen nehmen wir nun mit!“, will schließlich ihr Papa wissen.
„Den da!“, meint Meike und zeigt auf einen, in ihren Augen auf den schönsten Baum im Weihnachtswald. „Der ist nicht zu groß und nicht zu klein!“ Aber nun will sie doch von ihrem Papa wissen, warum sie nicht schon früher mit zum Weihnachtswald kommen durfte.
Da seufzt ihr Papa tief. „Wir hatten doch so viel Arbeit damit und da meinten wir, dass es besser sei, wenn wir dich Zuhause wissen. Mit so einem großen Ansturm auf unseren Weihnachtwald hatten wir nicht gerechnet. Nächstes Jahr müssen wir das alles besser organisieren, damit wieder mehr Zeit für uns bleibt. Das verspreche ich dir!“
„Okay!“, sagt Meike. Sie konnte ihrem Papa einfach nicht mehr böse sein. Denn, welcher Papa hatte schon so einen schönen Weihnachtswald.
„Jetzt will ich mir aber den Weihnachtswald noch genauer ansehen!“, meint sie und rennt auf den Hochsitz zu, den sie entdeckt hat. Mit einem der Schlitten, der davor steht, rodelt sie dann einige Male den kleinen Schlittenberg hinunter. Von der riesigen Schneeburg ist sie auch ganz begeistert und über die lustigen Schneefiguren muss sie herzhaft lachen. Die Einfälle mit Schneebällen auf Dosentürme zu werfen oder einem Pappschneemann genau auf die Mitte seines kugelrunden Bauches zu treffen, findet Meike ebenfalls toll. Die vielen Kerzen die in Papas Waldhütte brennen bescheren Behaglichkeit und der alte Holzofen macht wollig warm. Sogar eine Spielecke entdeckt dort Meike. Sie malt ein Bild von dem Weihnachtswald und heftet es, zu den vielen anderen Bildern, die schon an der Wand hängen. Dann trinken sie und ihr Papa noch eine Tasse Tee und essen gebratene Kartoffeln zur Erbsensuppe.
„So und jetzt zeige ich dir noch, wie man den Weihnachtsbaum verpackt und dann geht es ab nach Hause!“, und er packt den Tannenbaum an seinem Stamm, schiebt ihn hinten in ein Rohr hinein und holt ihn dann, aber mit einem Netz umwickelt vorne wieder heraus. „Auch eine tolle Sache!“, findet Meike.
Gemeinsam löschen sie das große Lagerfeuer, die Kerzen, Fackeln und Lichter aus und fahren dann los, mit ihrem verpackten Weihnachtsbaum auf dem Anhänger.
„So schön war der Weihnachtswald noch nie herausgeputzt!“, meint Meike und schaut noch solange auf ihn zurück bis er völlig in der Dunkelheit verschwindet.