Weihnachtsgeschichte für Oma

von Carina Schmidt


Denke ich an Weihnachten, fallen mir sofort die unbeschwerten Feste meiner Kindheit ein. Wie habe ich das Weihnachtsfest genossen! Der Duft von Bratäpfeln und Gebäck zog durch die Wohnung. Meine Eltern und ich waren immer in einer fröhlichen und gleichzeitig festlichen Stimmung. Das Schönste aber war, wenn wir am Weihnachtsfest bei meiner Großmutter waren. Omi war ein so liebenswerter Mensch! Sie wohnte nicht weit von uns in einem kleinen Häuschen. „Mein Schlösschen“, hatte sie es immer scherzhaft genannt. Dahinter war ein kleiner Garten, in welchem viele Blumen wuchsen. Dort stand auch ein großer Magnolienbaum, welcher im Frühling eine herrliche Blütenpracht entfaltete. Meine Großmutter konnte die beste Weihnachtsgans auf der ganzen Welt zubereiten. Immer hatte sie einen Weihnachtsbaum mit echten Kerzen. Wenn wir dann alle bei ihr im Wohnzimmer zusammen saßen, erschien mir die Welt so friedlich und schön…

Auf Großmutters Wohnzimmerschrank stand eine kleine Kaminuhr. Sie schlug zu jeder vollen und halben Stunde. Ihre Glocke klang wie Big Ben in London. Das Schönste aber war, wenn ich nach dem Weihnachtsfest bei meiner Großmutter übernachten durfte. Denn immer, wenn ich schon im Bette lag, setzte sie sich zu mir und las mir Geschichten vor. Sie hatte ein schönes Buch mit dem Titel „Aus dem Schatzberg“. Da gab es Legenden und Erzählungen über Heilige, Hexen, Gnome und Wassergeister. Ich konnte nie genug davon bekommen.


„Bitte Omi, lese mir doch noch eine Geschichte vor!“, bat ich immer wieder.
Und Großmama, liebenswert wie sie nun mal war, setzte ihre Erzählungen fort.
Oftmals hörte ich kurz vor dem Einschlafen noch die Kaminuhr schlagen. „Big Ben“ klang dann wie aus weiter Ferne in mein Zimmer. Dieser Glockenschlag begleitete mich in meiner gesamten Kindheit.

Aus Kindern werden Erwachsene, und die Zeit ging rasend schnell dahin. Längst war ich groß geworden. Als Ingenieur musste ich viele Auslandsreisen unternehmen und war beruflich sehr eingebunden. Dadurch hatte ich keine eigene Familie gegründet. Doch neben einem großen Freundeskreis hatte ich auch guten Kontakt zu meinen Eltern – und meiner Großmutter. Sie lebte immer noch in ihrem kleinen Häuschen, welches ich nun leider so selten besuchen konnte. Doch wenn mich in irgendeinem Winkel auf dieser Welt die Sehnsucht überkam, griff ich zum Telefonhörer und rief sie an. Sie hatte immer noch diese feine und weiche Stimme. Und wenn wir miteinander sprachen so erschienen mir die schönen Zeiten mit ihr so herrlich nahe…


Natürlich feierte ich Weihnachten immer noch. Nur waren die Feste im Bekannten- und Freundeskreis nicht mehr so schön wie ich es als Kind erleben durfte. Manchmal musste ich wegen beruflicher Verpflichtungen auch das Feiern ausfallen lassen. Als ich 28 Jahre alt war, trat dieser Fall wieder ein. Ich war beruflich in London. Als ich dann Big Ben schlagen hörte, da wurde mir richtig warm ums Herz…

Ich wollte am 23. Dezember nach Hause zu meinen Eltern fliegen. Auch Großmutter sollte dabei sein. Auf sie freute ich mich ganz besonders. Doch in jenem Jahr herrschte in England ein ausgesprochen eisiger Winter. Am 23. Dezember wurden alle Flüge wegen der klirrenden Kälte gestrichen. So musste ich wohl oder übel im Hotel in London bleiben.
In dieser Nacht träumte ich von meiner Großmutter. Ich sah sie im Traum in ihrem Garten unter dem großen Magnolienbaum stehen. Der Garten war tief verschneit und doch stand der Baum in seiner herrlichsten Blüte da. Als ich auf meine Großmutter zuging, sah ich, dass sie mit nackten Füßen im Schnee stand.

„Komm‘ doch ins Haus“, sprach ich sie an, „Du erkältest Dich doch sonst!“.
Aber Großmutter lächelte nur stumm und schüttelte den Kopf.
Als ich sie bei der Hand nehmen wollte, schien sie sich aufzulösen.
Schweißgebadet wachte ich auf. Es war tiefe Nacht. Big Ben schlug drei Uhr.


Als ich am Morgen aufwachte, war mir sehr sonderbar zumute. Ich rief meine Mutter an, um ihr schöne Weihnachten zu wünschen. Dabei erfuhr ich dann, was ich mit bangem Herzen erahnt hatte:
Großmutter war in der Nacht gestorben. Ihr Herz war um drei Uhr morgens stehen geblieben…

In all dem Schmerz blieb mir doch ein Trost. Ich war dankbar für all die schönen Jahre, in denen ich mit meiner Großmutter zusammen sein konnte. Ja, ich war sehr glücklich gerade sie als „Omi“ gehabt zu haben. Man sagt, dass ein geliebter Mensch in der Erinnerung weiter leben wird. Genauso war es auch. Als ich einige Tage später nach Hause fliegen konnte, kam ich noch rechtzeitig zu ihrer Beerdigung. Ich hatte den Wunsch, sie noch einmal zu sehen. Und als man den Sarg kurz öffnete, nahm ich ihre kleine weiche Hand und sagte nur :
“Danke, liebe Omi!“.


Das folgende Jahr ging schnell vorbei. Berufliche und gesellschaftliche Verpflichtungen gingen Hand in Hand und bald stand Weihnachten wieder vor der Tür. Da bekam ich einen Anruf von meiner Mutter.
Sie teilte mir mit, dass sie und Vater über die Weihnachtszeit Urlaub auf Gran Canaria machen wollten.

„Das war doch schon lange ein Wunsch von uns“, meinte sie ,“aber ich werde Dir etwas zu Weihnachten senden“.

Als ich am Heiligen Abend zuhause war, überreichte mir meine Nachbarin zwei Pakete. Als ich das kleinere zuerst öffnete, sah ich mit großer Freude und unendlicher Wehmut auf das Geschenk, welches da vor mir lag. Es war mein Lieblingsbuch „Aus dem Schatzberg“, aus welchem mir Omi immer so schön vorgelesen hatte. Im zweiten und großen Paket befand sich die schöne Kaminuhr, deren lieblicher Glockenschlag mich durch meine ganze Kindheit begleitet hatte. Als ich das Zifferblatt betrachtete, erblickte ich etwas Unglaubliches: Die Uhr war um Punkt drei Uhr stehen geblieben…

Ich nahm das Buch und schlug es auf. Tränen traten in meine Augen und ich sagte :
“Liebe Omi, heute werde ich Dir etwas vorlesen..“


Und dann las ich ihr eine Weihnachtsgeschichte aus diesem von mir so geliebten Buch vor. Und obwohl ich nun hier alleine saß, war es für mich doch das schönste Weihnachtsfest seit langem…