Im Weihnachtshimmel

von Gernot Jennerwein


In der Dunkelheit am frühen Weihnachtsabend konnte man das kleine Haus schon aus weiter Ferne erkennen. Gedämpfter Lichtschein aus einem Fenster ließ es aussehen wie eine Laterne im Schnee. Das Häuschen stand ein wenig schief, das Holz trug schwer am Schnee auf dem Dach und von Zeit zu Zeit da krachte es im Gebälk.
Eine alte Frau wohnte in dem Haus. Sie war recht mager und manchmal zitterten ihre Glieder. Sie saß bei Tisch, die Hände hatte sie in den Schoß gelegt und sie betrachtete ihren winzigen Weihnachtsbaum, an dem drei Kerzen brannten. Aus dem Radio auf der Kommode klang Musik, ein Chor sang von der schönen Weihnachtszeit. Die Frau dachte daran, wie es früher einmal gewesen war. Sie dachte an ihren Mann Albert, an ihre beste Freundin Anna, und an ihren Sohn, den Toni, der in jungen Jahren verstorben war. Sie dachte an all die Menschen, die ihr im Leben nahegestanden und schon längst von ihr gegangen waren. Nur die Erinnerungen waren ihr geblieben. Sie senkte den Kopf, ihre schmächtigen Schultern begannen zu zucken, und dann fing sie an zu weinen. Es war kein lautes Weinen, keinen Ton gab sie von sich, sie machte nie einen Lärm, ihr Wesen war still und ruhig. Oft fragte sie sich, weshalb das Schicksal ihr die Last der Einsamkeit auferlegt hatte, und dann wurde sie sehr traurig.
Ein Klopfen an der Tür holte die Frau aus ihren Gedanken. Erschrocken wischte sie mit beiden Händen die Tränen aus dem Gesicht. Sie erhob sich, ging zaghaften Schrittes an die Tür und öffnete diese.
Ein Junge stand ihr gegenüber. Unscheinbar von Statur, mit blond gelocktem Haar und strahlend schönen Augen in einem zarten Gesicht.
„Du bist Ida“, sagte er.
„Ja, ich bin Ida“, überrascht sah sie den Jungen an, „und wer bist du?“
„Ich bin Michael“, erwiderte der Junge.
„Michael?“
„Ja, Michael 154“, lächelte er.
„154? Was bedeuten die Zahlen? Das ist doch kein Name.“
„Doch, das ist mein Name. Michael 154, weil ich als der 154. Engel mit dem Namen Michael das Licht des Himmels in diesem Jahr erblickte“, antwortete der Junge vergnügt.
Ida staunte. „Was kann ich für dich tun, Michael?, fragte sie ernst und sah den Jungen fest an.
„Sie haben gesagt, ich soll dich abholen.“
„Wer hat das gesagt?“
„Nun, Albert, Anna, Toni und all die anderen.“
Ida wurde blass. „Wie soll das gehen?“
„Es ist ganz einfach“, sagte Michael, „gib mir deine Hand und schließe deine Augen.“
Ida wusste nicht so recht, was hier geschah, aber sie tat, wie ihr geheißen.
Wärmend spürte sie die Hand des Jungen nach der ihren fassen, und auf einmal, da fühlte sie sich ganz leicht. Nach kurzer Zeit hörte sie Michael sagen:
„Mach sie wieder auf, deine Augen, mach sie wieder auf.“
Ida gehorchte seinen Worten.
Geblendet blinzelte sie in eine Welt, die aus gleißenden Lichtern und funkelnden Sternen zu bestehen schien. Ida sah sich um und glaubte zu träumen. Sie befand sich in einem festlich geschmückten Saal, der voll von Menschen an reichlich gedeckten Tischen war. Ein Weihnachtsbaum stand in der Mitte, eine mächtige Tanne, mit saftig grünen Nadeln an Ästen und Zweigen, an denen Hunderte Christbaumkugeln schwebten, die den Lichtschein der Kronleuchter tausendfach zurückwarfen, Kerzen, die in allen Regenbogenfarben schimmerten und lieblich brannten, und darunter waren spielende Kinder, die lachten.
Und da ! Da standen ihr geliebter Albert, die Anna, der Toni und ringsum sah sie lauter Gesichter, die sie kannte.
Michael ließ ihre Hand los. „Nun geh schon, sie warten auf dich.“
Und Ida ging zu den Menschen, die sie liebte.
Sie fiel ihnen glücklich in die Arme, fand jedoch keine Worte, so sehr war sie angetan, doch bald erzählte sie, wie es ihr in den letzten Jahren ergangen war und jeder wollte sie daraufhin berühren, ihr eine kleine Zärtlichkeit schenken. Später saßen sie an der üppigen Tafel zusammen, naschten von all den Köstlichkeiten, tranken süßen Wein und ihr Gesang war so hell und melodisch, wie sie selbst es noch nie gehört hatten.
Ida erlebte das schönste Weihnachtsfest. Überglücklich weinte sie Tränen der Freude. Aber sie wusste, alles ging einmal zu Ende.
Gegen Mitternacht kehrte sie zu Michael zurück, der dem Fest etwas abseits beigewohnt hatte. Ida versuchte die Traurigkeit in ihrer Stimme zu unterdrücken, was ihr aber nicht so recht gelang, als sie sagte:
„Michael, ich weiß gar nicht, wie ich dir danken kann. Du hast heute Abend meinem Herzen das größte Glück geschenkt und mich meine Lieben sehen lassen. Aber nun ist es spät und du wirst mich wohl wieder zurück nach Hause bringen müssen.“
Michael schaute sie mit seinen gütigen Augen an. „Nein, Ida. Dein Zuhause ist jetzt hier bei uns. Ich habe dich auf der Erde abgeholt, weil dort deine Zeit abgelaufen war. Du bist jetzt im Himmel und wirst es auch bleiben.“

Es war nach Mitternacht, als in dem kleinen, schiefen Haus auf der Erde die drei Kerzen am Weihnachtsbaum für immer erloschen.