Der Junge, der von den Sternen kam

Autor: Gernot Jennerwein



Wenn man in einer klaren Winternacht draußen im scharfen Wind steht und zum Himmel schaut, dann sieht man hinter vielen Sternen und noch mehr Sternen einen ganz besonderen Stern. Er leuchtet ungewöhnlich hell, heller als all die anderen, und betrachtet man ihn eine Zeit lang, dann könnte man fast glauben, er ist gar nicht allzu weit von der Erde entfernt. Aber kein Mensch war jemals in seiner Nähe, nicht einmal die Astronauten mit ihren Raketen, weil sie denken, dort könne ohnehin niemand leben.
Doch das stimmt nicht ganz, denn einmal war ein kleiner Junge auf dem Stern zu Hause. Ein überaus magerer Junge mit blassem Gesicht, müden Augen und immer dunklen Augenringen darunter, die ihm wohl eine etwas kränkliche Natur bescheinigt hätten, wäre da nicht sein Haar gewesen, das wie Sternenstaub im Sonnenwind überaus lebendig schimmerte.

Der Junge war ein Sternenkind, und wie es bei einem Sternenkind üblich ist, lebte er ganz allein auf seinem Stern. Eigentlich hätte der Knabe ein recht zufriedenes Kind sein können, denn was sein Herz auch begehrte, auf dem Stern, der ein Zauberstern war, gingen all seine Wünsche in Erfüllung. Er brauchte nur die Augen zu schließen, an ein beliebiges Spielzeug zu denken, und schon war es in seinem Besitz. Doch das machte ihn keineswegs glücklich, weil die Zauberei für ihn ganz gewöhnlich war. Er freute sich nicht über diese herrliche Gabe, und nie geschah es, dass sie ihn zum Lachen brachte. Aber wenn er im Schlaf lag und träumte, Träume, die er später in wundervoller Erinnerung behalten würde, formten seine Lippen sich zu einem Lächeln.

Eines Tages, es war im Dezember zur Weihnachtszeit, fing der Junge an, sich eine Traumwelt nach seinen Wünschen und Vorstellungen zu gestalten. Eine Winterlandschaft war schon geschaffen, über der lieblich einige Schneeflocken trieben. Das gefiel ihm, als seine Nase und Ohren jedoch zu frieren begannen, begrub er das lustige Schneetreiben sogleich wieder unter einer Spielzeuglawine. Lustlos setzte er sich auf sein Schaukelpferd, das ihn wiegte, bis er ganz schläfrig wurde und sich von ihm herunterfallen ließ. Er lag auf dem Rücken, verschränkte die Arme hinter seinem Kopf und blickte zu den Abertausenden Sternen am Himmel. Er fragte sich, ob da draußen wohl noch jemand war, wie er es schon so oft geträumt hatte. Doch darauf fand er keine Antwort, und das machte ihn schrecklich traurig. Als er ein Weilchen so dalag und seine Augen schloss, spürte er auf einmal, wie etwas sanft seinen Bauch berührte. Erschrocken fuhr der Junge hoch, und das rätselhafte Ding rollte von ihm hinab und klimperte zu Boden. Staunend betrachtete er das hübsch verzierte, an dem einen Ende drei und an dem anderen Ende vier Finger breite Eisenrohr. An beiden Enden war es mit Glas verschlossen. Vorsichtig hob er das Stück auf, drehte und wendete es in den Händen, bis er es wagte, einen Blick hindurchzuwerfen.

Was er daraufhin zu sehen bekam, raubte ihm für einen Augenblick den Atem. All die Sterne, die sonst so weit entfernt waren, lagen zum Berühren nahe. Und als er an dem kleinen Rädchen drehte, das an dem wundersamen Rohr seitlich hervorsprang, rückten sie näher und näher. Der Junge jauchzte, und während er nach weiteren Himmelskörpern suchte, sprach er liebevolle Worte zu dem Zauberrohr. Hin und her schwenkte er das Instrument, bis er einen kleinen Planeten ausmachte, der recht unscheinbar zwischen den funkelnden Sternen steckte. Er war von wunderschöner blau-weißer Farbe, die den Jungen sehr entzückte. Unaufhörlich drehte er an dem Rädchen. Städte und Dörfer erblickte er bald, und dann war es ihm gar möglich, in die geschmückten Häuser der Menschen zu sehen: Frauen in Schürzen sah er an Backöfen stehen, Männer, die mit ihren Kindern spielten oder Bäume hübsch verzierten, und als er bemerkte, dass all die Kinder lachten, setzte er sich hin und begann auf seinen Lippen zu nagen. Wohin er auch schaute, überall herrschte ausgelassene Fröhlichkeit. Aber in einem Haus, es lag etwas abseits von den anderen und war kaum beleuchtet, entdeckte er zwei Menschen, die ganz betrübt beieinandersaßen. Auf einmal wurde ihm seltsam zumute. Er dachte an sein Leben und daran, wie traurig die Einsamkeit ihn manchmal machte. Als er das Zauberrohr senkte, um den Planeten mit bloßem Auge zu sichten, war dieser verschwunden. Der Junge lehnte sich zurück an einen großen Spielzeugklotz und war völlig regungslos. Seine Augen schmerzten, fest schloss er sie, und er wünschte sich eine Maschine zum Fliegen. Kaum hatte er seinen Wunsch zu Ende gedacht, hörte er schon ein Scheppern und Klappern. Ein kleines, rundes Raumschiff, das zitterte und wackelte, stand da auf drei Beinen. Argwöhnisch musterte der Junge das sonderbare Gefährt, doch dann wurde er mutig. Er steckte das Rohr in den Hosenbund, prüfte dessen Halt und trat schließlich beherzten Schrittes an die Blechkiste heran. Entsetzlich quietschte die Luke, als er sie öffnete. Ein letztes Mal blickte er zurück, dann stieg er ein und setzte sich auf den Pilotensitz. Den Steuerknüppel hielt er in seiner rechten Hand, kräftig drückte er ihn nach vorne. Das Raumschiff ruckelte und spuckte Feuer aus den Antriebsdüsen. Bald flog der Junge durch den Weltraum, und das unheimlich schnell. Mit seinem Zauberrohr hielt er zielstrebig nach dem kleinen Planeten Ausschau.

Nach nicht allzu langer Zeit landete er auf der Erde vor dem spärlich beleuchteten Haus. Er klopfte an die Tür. Als ihm niemand öffnete, trat er geräuschlos ein. In der Stube stand ein Mann, und neben ihm saß, die Hände in den Schoß gelegt, eine Frau. Sie beteten zusammen. Verlegen räusperte der Junge sich. Er fragte scheu, ob es ihm erlaubt sei, einzutreten. Beide nickten, wobei sie verwunderte Blicke tauschten. Der Knabe schaute sich um und fragte nach ihren Kindern. Die Frau senkte den Kopf und antwortete mit leiser Stimme, dass sie keine Kinder hätten, sich aber nichts sehnlicher wünschten, als welche zu haben, und dann brach sie in Tränen aus, ohne einen Laut von sich zu geben. Als der Junge die Frau weinen sah, spürte er eine nie gekannte Wärme in sich aufsteigen, die er nicht zu deuten wusste. Sie berührte ihn angenehm und schmerzlich zugleich. Er blickte aus dem Fenster und sah den Mond am Himmel stehen. Er dachte an sein Zuhause, an all seine Spielsachen und an die vielen einsamen Stunden, die er auf dem Zauberstern verbracht hatte. Mit Tränen in den Augen erzählte er den beiden von der weiten Reise und von seinem Stern. Der Mann betrachtete den Jungen lange Zeit und bedauerte dann zutiefst, kein Geschenk für ihn zu haben. Der Sternenjunge sagte, dass er kein Geschenk bräuchte, dass er sich aber wünschte, bleiben zu dürfen, vielleicht für immer. Zögerlich reichte er den beiden Menschen seine Hand.

Im nächsten Augenblick schlang die Frau ihre Arme um den Jungen und küsste ihn, und dann küsste sie ihn noch einmal, und der Junge bekam ganz rote Wangen. Tief in seinem Inneren wusste er, das war jetzt sein größtes Geschenk.