Wundersame Begegnung

von Traudl Wirsing


In zwei Teilen.

Tagelanger Schneefall hatte Stadt und Land ist einen weißen Wintertraum verzaubert. Baumwipfel bogen sich unter der Last der glitzernden Pracht und die Hausdächer hatten sich mit weißen Hauben festlich für die Weihnachtsfeiertage herausgeputzt.
Franz Meier schob schon zum zweiten Mal an diesem Vormittag den Neuschnee vom Dampfersteg in die dunklen Wellen des Chiemsees. In fünf Minuten sollte die „Irmingard“ ablegen und die wenigen Passagiere auf die Herreninsel bringen.
Gerade mal sechs ältere Paare und eine Handvoll junge Leute hatten Tickets gelöst.
Er wartete.
Sein Blick wanderte in immer kürzeren Abständen zum Fahrkartenhäuschen.
Sie müsste doch längst da sein! Sie war doch sonst immer überpünktlich!
„Wird schon nix passiert sein“, murmelte er vor sich hin und strahlte im nächsten Augenblick über das ganze, wettergegerbte Gesicht, als er eine schlanke Frauengestalt im langen Wildledermantel beschleunigten Schrittes vom Parkplatz her kommen sah.
Er beobachtete sie bewundernd, während sie die Fahrkarte löste und lächelnd den Dampfersteg betrat.
„Grüß Gott“, rief er ihr entgegen.
„Das ist aber schön, dass wir uns auch dieses Jahr wieder an Weihnachten sehen.“
Sie lachte leise und wechselte ein paar freundliche Sätze mit ihm, während er ihr galant den Arm bot und sie in den großen Fahrgastraum begleitete. Mit leuchtenden Augen sah sie sich um.
Ihre Blicke musterten rasch und konzentriert alle anwesenden Personen, wanderten hinaus auf den menschenleeren Steg und wieder zurück, um nochmals jeden einzelnen Fahrgast gründlich zu taxieren.
Tiefe Enttäuschung zeigte sich spontan auf ihrem Gesicht und war trotz ihres Bemühens nicht wegzulächeln. Mit hängenden Schultern ließ sie sich auf eine Sitzbank fallen.
Einem Franz Meier entging so was natürlich nicht!
Seit fast vier Jahrzehnten war er bei der Chiemseeflotte angestellt und hatte sich im täglichen Umgang mit Touristen und Einheimischen eine grandiose Menschenkenntnis angeeignet.
Die Frau war ihm vor ungefähr vier oder fünf Jahren durch ihre sympathische und attraktive Erscheinung aufgefallen.
Nicht dass sie eine makellose Schönheit gewesen wäre, gewiss nicht, aber mit ihrem eleganten Auftreten und ihrer selbstbewussten Ausstrahlung wusste sie stets viele Blicke auf sich zu ziehen.
Er kannte noch nicht mal ihren Namen. Wäre da nicht seine Elisabeth gewesen, mit der er mittlerweile seit siebenunddreißig Jahren glücklich verheiratet war, er hätte wohl versucht, mit der Frau ein wenig anzubandeln.
Franz Meier schmunzelte: Wenn das seine Elisabeth wüsste!
Seit Jahren schickte sie ihn immer am vierundzwanzigsten Dezember - sehr zur Freude seiner Kollegen - zur Arbeit, weil er ihr bei ihren akribischen Weihnachtsvorbereitungen angeblich nur im Wege stand. Er wusste natürlich nur zu genau, dass sich seine Elisabeth das ganze Jahr über auf Heilig Abend im Kreis der Kinder und Enkelkinder freute und jedes Mal noch mehr Anstrengungen unternahm, damit es für die ganze Familie ein wunderbares und harmonisches Fest wurde.
So kam es also, dass Franz Meier mit der geheimnisvollen Frau, die er auf Anfang Fünfzig schätzte, Bekanntschaft gemacht hatte. Jahr für Jahr fuhr sie gegen Mittag von dem beschaulichen Ort Prien am Chiemsee mit einem Dampfer zur Herreninsel und am späten Nachmittag wieder zurück. Immer allein und immer mit erwartungsvollem Blick bei der Ankunft und traurigen Augen bei der Rückfahrt.
Er hatte sich schon oft Gedanken darüber gemacht:
Was trieb die Frau stets an Heilig Abend auf die Herreninsel? Wen suchte sie?
Für Franz war alles klar:
Hier konnte es sich nur um eine Herzensangelegenheit handeln!
Mit einem aufmunternden Lächeln spendierte er der hübschen Dame ein Glas heißen Tee und plauderte Belangloses, während sich die behäbige „Irmingard“ stampfend der Herreninsel näherte.
Wie gewohnt schlug Regina Brunner vom Dampfer-Anlegeplatz aus den Weg zur Nordseite der Herreninsel ein. Bis zur Kreuzkapelle war es nur ein kurzer Fußmarsch.
Große, weiche Schneeflocken taumelten vom wolkenverhangenen Himmel, begrenzten die Sicht auf wenige Meter und blieben an Mütze und Mantel hängen. Sie atmete in tiefen Zügen die kalte, reine Winterluft und ließ ihren Gedanken und Gefühlen freien Lauf. Hier war sie ungestört, niemand würde ihre Tränen sehen. -

Der zweite Teil folgt gleich hinterher !